Drachensteigen wird in Brasilien zum lebensgefährlichen Spiel | Weather.com

Drachensteigen wird in Brasilien zum lebensgefährlichen Spiel

Alexander "Jarro" Mattoso da Silva, ein Militärpolizist und Präsident des brasilianischen Sportdrachenverbandes, lässt auf seinem Dach in Rio de Janeiro einen Drachen steigen.  Foto: Bruna Prado/AP
Alexander "Jarro" Mattoso da Silva, ein Militärpolizist und Präsident des brasilianischen Sportdrachenverbandes, lässt auf seinem Dach in Rio de Janeiro einen Drachen steigen.
(Bruna Prado/AP)

Zwei Gruppen von Männern stehen an einem Hang am Rand von Rio de Janeiro auf Dächern und verhöhnen sich gegenseitig. Es ist ein Macho-Showdown zwischen Gegnern mit ungewöhnlichen Waffen - Drachen. An diesem Morgen in der verarmten Wohngegend benutzen sie straffe Leinen mit Kanten, die so scharf sind wie Rasiermesser, um die Drachen ihrer Kontrahenten vom Himmel zu holen, indem sie deren Strippen zerschlitzen.

Diese Art von Drachensteigen hat schreckliche Verletzungen und sogar Todesfälle verursacht, und jetzt liegt in Brasiliens Kongress ein Gesetzentwurf vor, der ein landesweites Verbot der Herstellung, des Verkaufes und der Benutzung dieser scharfen Leinen vorsieht. Verstöße sollen demnach mit ein- bis dreijähriger Haft und einer saftigen Geldstrafe geahndet werden.

Leinen des Gegners zerschneiden als Wettkampf

Die Leinen sind bereits in einigen dichtbevölkerten Gebieten in Brasilien verboten, darunter Rio, aber das scheint die Männer, die an diesem Morgen auf den sich gegenüberliegenden Dächern ihre Drachen steigen lassen, nicht zu kümmern. Tatsächlich sind manche von jenen, die das Gesetz missachten, Polizeibeamte. Einige von ihnen bezeichnen diese Art von Wettkampf als ihre Therapie.

„Das ist die Logik des Drachensteigens: die Leine einer anderen Person zu zerschneiden“, sagt Alexander Mattoso da Silva, ein Militärpolizist mit muskulösen tätowierten Oberarmen, der „Jarro“ genannt wird. „Wir versuchen immer, die Drachen an geeigneten Orten fliegen zu lassen, um niemanden zu gefährden. Es gibt keine Risiken hier, denn der Drachen fällt in die Wälder“, versichert er und weist auf den baumbedeckten Berg, über dem die Drachen tanzen. Doch dort unten gibt es auch enge Fußgänger-Gassen.

Statt Baumwollstrippen werden scharkantige Leinen eingesetzt

Drachensteigen hat eine lange Geschichte ein Brasilien und ist in Rios Favelas - den Armengebieten an den Hängen um die Stadt - besonders populär. Hier werden Drachen in Heimarbeit hergestellt, aus Bambus und Seidenpapier. Bei vielen ruft das Drachensteigen Erinnerungen an die Kindheit wach, an unbeschwerte Stunden des Spielens. Und manche lassen sie schlicht fliegen, um das Zerren des Windes an den harmlosen Baumwollstrippen zu spüren. Aber an scharfkantigen Leinen befestigt können die Drachen tödlich werden, besonders, wenn sie über Schnellstraßen mit Motorradfahrern streifen, die sie wegen ihres hohen Tempos schwer sehen können.

Während Drachen-Kampfwettbewerbe in Ländern wie Frankreich und Chile sicher in eigens ausgewiesenen Gebieten abgehalten werden, hat der verbreitete unregulierte Einsatz der speziellen Leinen in Brasilien im Laufe der Jahre zahlreiche Verletzungen verursacht. Um die Gefahr abzuwenden, bringen Fahrer mit Rasierklingen ausgerüstete antennenartige Stangen vorne auf ihrem Rad an, um etwaige Strippen in ihrem Weg zu kappen. Aber Fälle, in denen Leuten auf Motorrädern ein Glied abgetrennt oder ihre Kehle aufgeschlitzt wurde, sind dennoch nicht ungewöhnlich - was mehrere brasilianische Bundesstaaten veranlasst hat, die Leinen gesetzlich zu regulieren.

Tausende Verletzte

Der Entwurf für ein Bundesgesetz mit einem landesweiten Verbot ist im Februar vom Unterhaus des Kongresses gebilligt worden und liegt jetzt dem Senat vor.

Carolina da Silveira hat am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich die Leinen sind. Sie saß im Juni auf dem hinteren Sitz eines Motorrades, als eine Leine in ihren Hals schnitt. „Ich ging ins Krankenhaus, schreiend, dass ich nicht sterben will“, schildert die 28-jährige Anwältin. „Ich bin wirklich glücklich, dass ich am Leben bin.“

Es liegen keine offiziellen landesweiten Daten über die Zahl von Verletzungen und Todesfälle durch diese Drachenschnuren vor. Aber seit 2019 hat es allein im Bundesstaat Rio mehr als 2800 Berichte über illegale Nutzungen der Leinen gegeben, so das MovRio-Institut, das eine Hotline betreibt.

Drachensteigen hat lange Tradition in Brasilien

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Drachen sind in Brasilien allgegenwärtig, Rios Stadtparlament erklärte das Steigenlassen 2021 sogar zu einem kulturellen und historischen Erbe. Manche sagen, dass die portugiesischen Besiedler des Landes die Drachen nach Brasilien brachten. Aber andere weisen darauf hin, dass sie in Afrika benutzt wurden und die legendäre Palmares-Gemeinde entflohener Sklaven im Nordosten Brasiliens sie einsetzte, um vor Gefahren zu warnen.

Auf jeden Fall wurde das Drachensteigen so populär, dass Kinder Schulferien „die Zeit der Drachen“ nannten, wie Luiz Antônio Simas, ein auf Rios Popkultur spezialisierter Historiker, sagt.

Dramatische Todesfälle durch Drachenschnüre

Carlos Magno ist Präsident einer städtischen Vereinigung von Leuten, die dem Drachensteigen frönen. Im Juli ist er in die Hauptstadt Brasilia gereist, um Parlamentarier zu überreden, von einem landesweiten Verbot der scharfkantigen Leinen abzusehen. Der Entwurf erlaubt zwar Wettbewerbe, aber ohne diese Art von Strippen, die Magno und andere Fans als unerlässlich bezeichnen. Er ist zwar für ein Verbot auf den Straßen, „wir sehen ein, dass es gefährlich ist“, aber beharrt darauf, dass die speziellen Leinen in designierten Gebieten sicher benutzt werden könnten.

Paulo Telhada, der die Vorlage im Unterhaus eingebracht hat, sagt dagegen, dass jede Ausnahme mehr Verluste von Gliedmaßen und Leben bedeuten würde. Wenn es um eine Wahl zwischen Leben und Sport gebe, „Ich bin ich für Leben“, sagte er der Nachrichtenagentur AP.

Er spricht Kelly Christina da Silva aus der Seele. Ihr Sohn Kevin wurde 2015 durch einen Schnitt in den Hals getötet, als er mit seinem Motorrad unterwegs war. Kurz davor, am selben Tag, hatte der 23-jährige einen Mietvertrag für ein Haus unterzeichnet - für sich und seine Verlobte. „Das Leben meines Sohnes wurde zerstört“, sagt die Mutter. „Wegen eines Spieles.“

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